Interview mit Dr. Christian Schmincke
Zum Thema "Alternative Heilmethoden"und "Komplementärmedizin"
Punktuell wird das Komplementär-Modell mancherorts schon heute in die Tat umgesetzt. Aus der Nähe betrachtet wird man das, was etwa in der Klinik am Steigerwald geschieht, eher schon eine gegenseitige Durchdringung der beiden medizinischen Welten nennen können: Alle Ärzte haben eine doppelte Ausbildung und müssen in beiden Welten zu Hause sein; alle diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen werden nach schulmedizinischen und chinesischen Standards überprüft, damit beide Optionen gegeneinander abgewogen werden können. Beide Methoden, beide Sichtweisen befinden sich also in einem unablässigen Dialog miteinander, von dem jede Seite profitiert. Wenn ein solches Modell sich nicht flächendeckend ausgebreitet hat, dann ist dies in erster Linie eine Frage der gesellschaftlichen Machtverhältnisse.
Aber es gibt nebenbei auch ein methodenimmanentes Konfliktpotential zwischen beiden Welten: Unter konventioneller medikamentöser Behandlung, insbesondere bei Langzeit-Therapie, verlernt es der Organismus, autonome Formen der Krankheitsbewältigung zu entwickeln – schlechte Voraussetzungen für eine biologisch orientierte Medizin. Aus diesem Grunde können wir den Patienten leichter behandeln, der motiviert ist, seine konventionelle Medikation grundsätzlich zu hinterfragen.
Ein integrativer Behandlungsansatz kann sich erst als Ergebnis gewisser gesundheitspolitischer Umwälzungen entwickeln. Dazu würde gehören:
- Der Einfluss der Industrie in den Bereichen Forschung, Lehre, medizinische Publizistik wird auf ein vernünftiges Maß zurückgeschraubt.
- Die Patienten beteiligen sich an den Behandlungskosten, damit Transparenz und Eigenverantwortung wachsen können.
- Die Krankenversicherungen lösen sich aus der Umklammerung durch den medizinisch-industriellen Komplex, um den Weg frei zu machen für eine pragmatische Erstattungspraxis im Sinne ihrer Kunden.
Zwischen der übertriebenen Reklame, die manche Naturheilmethoden für sich machen, und der Unterbewertung der ganzen Richtung durch die Hochschulmedizin fehlt sozusagen die mittlere Etage: ein sachlicher auf Forschung und Erfahrung gestützter Diskurs über Konzepte und Ergebnisse komplementärer Therapien. Dies als Grundlage einer öffentlichen Meinungsbildung würde dem Laien helfen.
Momentan heißt es, sich im Urwald zu orientieren. Dabei ist der gesunde Menschenverstand möglicherweise mehr gefragt als irgendein Fachwissen.
Auf ärztliche Beratung kann bei diesem Prozess der Meinungsbildung natürlich nicht verzichtet werden. Um nicht nur Sachinformationen über Diagnose- und Therapiekonzept zu erhalten, sondern auch ein Gespür für die Qualität dieser Beratung zu entwickeln, sollten Fragen, durchaus auch kritische, gestellt werden: Wie lang dauert die Therapie, wie lange hält der Erfolg an; ist mit Heilungskrisen zu rechnen, wie groß sind die Erfolgsaussichten usw.
Alternative Heilmethoden werden häufig in einem Atemzug mit Unwissenschaftlichkeit genannt; Behandlungserfolge werden dem Placebo-Effekt zugeschrieben und die Nachweisbarkeit bemängelt. Im Gegensatz dazu stehen Studien und positive Erfahrungsberichte von Patienten. Wie ist Ihre Einschätzung hierzu? Wann gilt eine Heilmethode als wissenschaftlich belegt? Wie weit ist hier die Forschung auf Ihrem Fachgebiet fortgeschritten?
Hier muss man unterscheiden zwischen problematischen Voraussetzungen, unter denen etwas als "wissenschaftlich" anerkannt, bzw. als "unwissenschaftlich" verworfen wird, und gewissen grundlegenden Standards. Auch die TCM muss vor dem Maßstab bestehen können, dass nur anerkannt werden kann, was durch Erfahrung geprüft ist.
Also: Wissenschaftliche Evaluation der TCM muss geleistet werden, aber mit Methoden, die dem besonderen Charakter dieser Heilverfahren Rechnung tragen. So wird man ein Verfahren, das mit verlaufsbezogenen Rezepturen individuelle Gesundungsprozesse steuert, nicht über Doppelblindstudien erforschen können. Aber es gibt andere Möglichkeiten, Wirksames von Unwirksamem zu unterscheiden, angefangen von der sauberen Anwendungsbeobachtung bis zur Therapie-Evaluation mit der Matched-Pairs-Methode.
Die bislang noch magere Datenlage auf dem Gebiet der Komplementärmedizin-Forschung hängt ebenso mit der bescheidenen institutionellen Verankerung der TCM (in Kliniken, mittels Lehrstühlen) zusammen wie mit der schlechten Eignung für Industrie-Sponsoring. Wo Studien vorliegen, können ihre Ergebnisse mit denen konventioneller Behandlungsmethoden durchaus mithalten oder sind ihnen sogar überlegen.
- Ist der Patient bereit, sich vom Konsum-Modell der Therapie zu verabschieden und ein echtes Arbeitsbündnis mit dem Therapeuten einzugehen?
- Ist er bereit, sein bisheriges Leben – Gewohnheiten, Traumatisierungen, Überforderungen – zu überdenken und die Krankheit als sein Ding anzunehmen?
- Wird er sich, in stetiger Kommunikation mit dem Therapeuten, auf einen Therapieprozess einlassen, der auch durch Krisen führen kann? Ist zu erkennen, dass ein solches Arbeitsbündnis nicht zustande kommt, wird man dem Patienten empfehlen, sich in die Hände der Schulmedizin zu begeben; besonders dann, wenn eine Therapie-Pause mit Risiken verbunden wäre.
Bei einigen Krankheiten geht es darum, die richtige Rangfolge zu klären: Etwa bei Krebs oder Diabetes I kommt die konventionelle Therapie an erster Stelle. Eine chinesische Begleit-Therapie kann hier die Effektivität der Haupt-Therapie enorm steigern und Nebenwirkungen lindern.
Der Therapeut sollte auf Fragen eingehen können: was die Diagnostik ergeben hat, wo seiner Meinung nach die Ursachen der Krankheit liegen, wie er die Prognose einschätzt, was seine Behandlungsidee ist und an welcher Stelle Hilfe und Mitarbeit des Patienten besonders wichtig sind.
- Lange medikamentöse Vorbehandlungen können zu Reaktionsstarre führen: Der Organismus hat sich zu sehr an die medikamentösen Krücken adaptiert.
- Rasch fortschreitende schwere Erkrankungen wie z.B. manche Formen von Krebs oder Amyotropher Lateralsklerose: Die Therapie holt den Prozess nicht mehr ein.
- Bei Endzuständen von Degenerationsprozessen sind oft nur leichte Linderungen möglich. .
Download des Textes als PDF